Verbissene Gesichter unterm Fahrradhelm kommen mir entgegen. Warnweste tragend rasen gestresste Trekkingradfahrer mit ihren dicken Gepäcktaschen an mir vorbei. Das typische deutsche Bild an einem Morgen in Hannover. Und der Stereotyp des schlecht gelaunten, gehetzten Menschen auf seinem Weg zur Arbeit. Ein Sinnbild des deutschen Alltags, den ich lächelnd und wunderlich beobachte. Sie bevölkern die Radwege und scheinen die Fahrt an einem sonnigen Morgen durch den Wald kein bisschen zu genießen. Aber immerhin noch unterhaltsamer als in der U-Bahn Menschen aufs Smartphone starren zu sehen. Immer wieder fällt mir bei meiner Fahrt zur Arbeit auf, dass ich irgendwie nicht mehr in diese Gesellschaft passe. Oder nicht passen will. Alle sind gestresst, um schnell die Fahrt an der frischen Luft hinter sich zu bringen, um den ganzen Tag in einem Gebäude auf einen Bildschirm zu starren und wichtige Aufgaben für irgendein Wirtschaftsunternehmen zu erfüllen. Und das 5 Tage die Woche, um sich am Wochenende von diesem Stress des Alltags zu erholen. Manchmal wünsche ich mich zurück zu den freundlichen Menschen in Grenada, die niemals einem Bus hinterher rennen und bei Regen nicht arbeiten.
Aber auch ich bin nach ein paar Monaten wieder voll im Hamsterrad angekommen. In den ersten Wochen machen mir vor allem die schmerzenden Augen, durch das achtstündige auf den Bildschirm glotzen, bewusst, was man seinem Körper eigentlich antut. Rückenschmerzen vom vielen Sitzen, Zähne knirschen in der Nacht. All das, bemerke ich nun, sind Auswirkungen der langen Bildschirmtätigkeit und des ständigen Termindrucks.
Aber, auch wenn der Alltag, wie ich ihn auch vorher 20 Jahre gelebt habe, mich wieder hat, ist etwas anders: ich beobachte das Treiben viel mehr und nehme bewusster wahr, wie wir eigentlich leben. Ich freue mich über die Möglichkeit mit dem Fahrrad durch die Natur zur Arbeit zu fahren, zu beobachten, wie die Jahreszeiten den Wald verändern, wie der Nebel über den Ricklinger Teichen hängt und die Eichhörnchen hastig ihre Nüsse verstecken.
Lustig, selbst die Tiere in Deutschland wirken stressiger. Während im letzten Jahr die gemütlichen Schildkröten zu meinem Alltag gehörten, sind es hier die Eichhörnchen, die ganz aufgeregt und hektisch von Baum zu Baum klettern. Süß sind sie trotzdem und ich nehme mir immer Zeit, sie zu beobachten.
Auch für eine Schwimmrunde zwischendurch am See anzuhalten, nehme ich mir Zeit. Denn immer häufiger stelle ich fest, dass mir das Stadtleben und die vielen Menschen zu anstrengend geworden sind. Allein für diese Erkenntnisse hat es sich gelohnt, mal anderthalb Jahre raus gewesen und jetzt wieder gekommen zu sein.
Ich nehme auch die ganzen positiven Aspekte dieses Lebens viel dankbarer wahr: Aus dem Wasserhahn kommt sauberes Trinkwasser, kalt und heiß, unendlich. Unfassbar!
Aus der Steckdose kommt einfach Strom, ohne dass ich auf die Voltzahl achte, ein riesiger Kühlschrank läuft Tag und Nacht und die eigene Waschmaschine rumpelt regelmäßig.
Auch Freude an einer Arbeit zu haben, die etwas verändert und mit deren Verdienst ich eine Weile leben kann, schätze ich sehr – nahezu nirgends auf der Welt wird man so gut bezahlt wie in Deutschland. Selbst wenn man, wie Heiko, den ganzen Tag spaßig Speedboot im Serengeti Park fährt.
Und dann noch der Überfluss an Lebensmitteln und Konsumgütern: Ich weiß noch, wie ich die ersten Tage völlig überfordert beim Bäcker stand und die Auswahl an knackigen, körnigen Brot und Brötchen gar nicht fassen konnte.
Noch immer habe ich es nicht geschafft, alle Joghurtsorten zu probieren, die es in deutschen Supermärkten zu so unfassbar günstigen Preisen gibt. Und sowieso, von allem gibt es eine große Auswahl zu Preisen, die ich im Laufe der Zeit einfach vergessen hatte. Und alle erzählten mir unterwegs, dass alles so teuer geworden ist. Ihr wisst gar nicht, auf welch hohem Niveau dieses Meckern ist. Wenn ich in der Karibik mal einen Joghurt gefunden habe, der unter 2€ für 150 Gramm gekostet hat, hab ich zugegriffen (also einen einzelnen, zum Genuss). Seit ich in Deutschland bin, kaufe ich jede Woche einen halben Liter für unter 1€… also zumindest könnte ich es, wenn ich wollte.
Überall gibt’s Döner und Wiener und die Käseauswahl ist erschlagend. Und ja, ich habe sogar meine „zu Hause wird vegetarisch gekocht“-Vorsätze über Bord geschmissen, weil ich weiß dass ich das meiste davon bald lange nicht mehr essen werde. Außer Hähnchen – das gabs in der Karibik im Überfluss und wird jetzt gemieden.
Ich störe mich also nicht nur an den vielen gestressten, mies gelaunten Menschen, sondern erfreue mich auch um so mehr über all den Luxus, den Deutschland bietet.
Und natürlich über die Möglichkeit, Zeit mit Familie und Freunden zu haben. Auch das weiß ich nun viel mehr zu schätzen.
Und auch wenn ich es noch immer anstrengend finde, so viel Zeit in Gebäuden, ohne Frischluft, Sonne und ohne Weitblick zu verbringen, so freue ich mich doch, all meine Wege mit dem Fahrrad erledigen zu können. Außerdem haben wir ja den glücklichen Segen (Dank Tanja), in einem Haus am Stadtrand mit Garten zu wohnen, wo ich nicht nur Ruhe finde, sondern mich auch noch bei Gartenarbeit ausleben kann.
Besonders über meine selbst gezogenen Tomaten freue ich mich jeden Tag. Dass der Nachbar auch noch Kirsch- und Apfelbäume hat, die zu viel abwerfen, ist natürlich himmlisch. Außerdem konnte ich die ersten Monate meine Lust auf deutsche Beeren stillen, in dem ich am Wochenende bei Hertells Beerendorf ausgeholfen habe und nicht nur über Erdbeeren, Him-, Brom-, Stachel-, Johannis- und Kamtschatka-Beeren viel gelernt habe, sondern auch immer im Überfluss davon zu essen hatte. Herrlich. Auch das sind Lebensmittel, die ab Dezember für längere Zeit nicht mehr auf dem Speiseplan stehen werden (ersetzt werden sie durch andere tolle Früchte).
Die sieben Monate in Deutschland nutze ich also ausgiebig, um all die Dinge zu genießen, die ich lange nicht gesehen, gefühlt und geschmeckt habe. Und mit dem Wissen, dass ich es die nächsten beiden Sommersaisons auch nicht haben werde, honoriere ich alles noch viel mehr.
Ich freue mich auch jetzt schon auf den Moment, wenn ich ne halbe Stunde an der Straße, ohne Fahrplan auf einen Bus warte und daran zurückdenken werde, wie die Leute im Zug stöhnten, als die deutsche Bahn zehn Minuten Verspätung verkündete.
Am zweiten Dezember steigen wir wieder in den Flieger und starten in das alte/neue Leben. Zurück nach Grenada, zum Boot, zu unserem zu Hause, welches uns dann auch bald weiter Richtung Westen bringen wird.
Der Panamakanal liegt vor uns. Der Pazifik erwartet uns. Und ich gehe mit einem noch größerem Dankbarkeitsgefühl zurück ins Bootsleben. Dankbar in Deutschland geboren zu sein und dankbar, all diese Erfahrungen machen zu können.
Alle Abenteuer von unterwegs sind hier zu nachzulesen: Barfuß um die Welt
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